nix  
 

b

 

 

Die hier wiedergegebenen Bilder wurden im Sommer 1941 im „Zigeuneranhaltelager Weyer“ aufgenommen. Im Roman Herzfleischentartung von Ludwig Laher (Haymon Verlag, März 2001) finden sich dazu folgende Passagen:

 

  1

2

3

9

10

5

6

7

8

4

Der Mediziner Dr. Straffner ist zugleich der Bürger Alois Straffner. Offenbar photographiert er gern und außergewöhnlich gut, offenbar beschäftigt er sich intensiv mit neuen technischen Entwicklungen. Eben hat er sich entschlossen, Versuche mit Farbumkehrfilmen anzustellen. Das Resultat, die sogenannten Diapositive, wird er dann in riesigen Formaten an die Wohnzimmerwand projizieren können. Alois Straffner, der schon so viel in diesem gottverdammten Lager sehen hat müssen, will noch mehr sehen. Sein neues Motiv sind die Zigeuner.

    Die Reihenfolge der Besuche mit dem Photoapparat ist Interpretation, aber so könnte es gut gewesen sein, wenn man der Sprache seiner Bilder trauen will: Hunderte Menschen ringsumher, kaum Männer, die dürften an der Baustelle sein. Die einen lehnen an Ziegelmauern, denen der Putz schon lange abhanden gekommen ist, andere sitzen ohne eine Unterlage auf dem braunen, graslosen Lehmboden, bringen den Tag irgendwie hinter sich, bilden wir uns ein, es ist später Nachmittag, Schleierwolken stehen am Himmel. Es gibt offenbar nichts hier, womit man sich sinnvoll beschäftigen könnte, natürlich auch kein Spielzeug für die vielen kleinen Kinder. Ein Bub hält ein Hufeisen fest umklammert, eine alte Frau mit hinten geknotetem Kopftuch hat eine kalte Pfeife im Mund. Sie fällt sofort ins Auge, weil fast alle hier unendlich jung sind, Durchschnittsalter schätzungsweise siebzehn, achtzehn vielleicht. Die meisten laufen barfuß, manche besitzen ausgelatschte, kotige Schuhe, selten in passender Größe. Die Kleider sind abgetragen, ausgebeult. Aber nicht das hemmt den Gast, schließlich schauen Knechte und Mägde bei den Bauern auch nicht viel vornehmer aus.

    Womit er heute umgehen lernen muß, ist etwas ganz anderes: Durchs Lagertor ist er in eine fremde Welt getreten, und das nicht wie sonst als Arzt mit klar umrissenen Aufgaben, geschäftig bemüht, eine kurze Behandlung vorzunehmen, stets in Eile, andere Patienten im Hinterkopf. An diesem Tag will er sich auf die Ausgegrenzten in ihrem deprimierenden Zeitloch einlassen, er will sich in Ruhe ein Bild, viele Bilder von ihnen machen. Alois Straffner befindet sich mit einem Mal in einem imaginären Wartesaal unter unzähligen armseligen Menschen, die miteinander zu tun haben, zusammengehören, das verrät schon der erste Blick. Sie wirken auf den Betrachter, als kämen sie von weither, aber wenn sie den Mund aufmachen, reden sie alle wie du und ich. Und sie sind, das ist dem gebildeten Mann vollkommen bewußt, aus keinen anderen Gründen hier zusammengepfercht, eingesperrt, verstaut als aus denen ihrer Zugehörigkeit zur falschen ethnischen Gruppe und ihren nicht länger geduldeten Sitten und Gebräuchen, oft selbst bloß Resultat jahrhundertelanger Stigmatisierung.

    Ahnt Dr. Straffner nach den fürchterlichen Erfahrungen des letzten Jahres, daß der Staat, in dem er lebt, keine Verwendung für Roma hat? Ist dem nationalsozialistischen Parteigenossen bekannt, daß auch in den großen Konzentrationslagern längst schon Zigeuner inhaftiert sind? Stimmt es, was Zeitzeugen lange nach dem Krieg beschwören, daß sie nämlich bei manchen in Weyer internierten zigeunerischen AZR-DR und AZR-St – deutschen und staatenlosen Asozialen - eintätowierte Häftlingsnummern aus Auschwitz festgestellt hätten? Ist Straffner etwa gar hier, um einen unmittelbar bevorstehenden Untergang zu dokumentieren, eine gründliche Ausmerzung, wie das neuerdings heißt? Macht ihn diese Ahnung so befangen? Auch die Roma halten vorerst Distanz, wirken mißtrauisch, manche der Kinder mustern den Arzt als Photographen und seine teure Ausrüstung mit vorsichtiger Neugier. Alois Straffner beginnt an seinem Stativ zu hantieren, er macht sich an die Arbeit. (...)

     Jetzt aber leben sie noch, und der Privatmann Alois Straffner nimmt gerade eine Gruppe von achtzehn zigeunerischen Individuen ins Visier seiner Kamera. Nur die Kinder schauen in sein Objektiv, die erwachsenen Frauen blicken zu Boden oder zur Seite. Das Bild vermittelt immer noch reichlich Abstand zwischen Photograph und Motiv, und das liegt nicht an den technischen Details der Aufnahme. Schnitt. Frauen sitzen mit ausgestreckten Beinen auf der bloßen Erde, Kinder auf dem Schoß, Kinder neben sich. Dahinter ein toter Baum. In einer Astgabel steckt ein tuchentüberzogener Strohsack. Trostlosigkeit. (...)

    Dr. Alois Straffner muß an einem prachtvollen Tag noch einmal mit der Kamera im Lager gewesen sein, die Abendsonne taucht die Gesichter heute in ein mildes, versöhnliches Licht. Es entstehen Dutzende Einzelporträts, Paar- und Kleingruppenaufnahmen von Geschwistern, Familien, Liebenden, alten Eheleuten. Die Stimmung hat sich völlig verändert. Aus den resignierten, zerlumpten Lagerinsassen von weit dort drüben sind nahe Bekannte des Objektivs geworden, und sie haben sich, ein letztes Mal wohl, sogar schön gemacht für einen, der Interesse zeigt an ihnen, den Entwürdigten, Ausgestoßenen, Weggesperrten. Über dreißig Bilder sind erhalten, sie zeigen uns hübsche, junge Menschen in meist einfachen, aber sauberen Kleidern, Männer mit artig zurückgekämmtem, dichtem Haar, Frauen mit großen Ohrringen, Blusen und Röcken mit aufgedruckten Sommerblumen, mit Herbstblättern. Ein smarter Jüngling trägt sogar Nadelstreifanzug und Fliege zum weißen Hemd, eine junge Mutter ihre Perlenkette. Noch hat man ihnen offenbar nicht alles gute Gewand weggenommen, in Koffern und Kisten wird das Zeug gelegen sein, ausgehändigt von der Lagerverwaltung für diesen Phototermin, für den Herrn Doktor, der nichts Böses will, nur ganz unschuldig Zigeunerromantik dokumentieren, wie sie im Buche steht.

    Dürfen wir diese Bilder wirklich so naiv betrachten? Dr. Straffner hat immerhin, wer will es ihm verargen, ein vitales Interesse daran, später einmal glaubhaft belegen zu können, daß diesmal alles anders ist. Gut, da sterben wieder welche, aber auch draußen im normalen Leben ist ein Schnitter, der heißt Tod. Seht her, heißt die Botschaft dieser einzigartigen Bilddokumente, die Leute hier sind froh und glücklich, nichts geht ihnen ab in diesem Lager, ich, Alois Straffner, wasche meine Hände jedenfalls in Unschuld. Sechzig Jahre später noch werden die Photos bei jenen als Beweis für die Sanatoriumsqualität der Anstalt dienen, die faszinierenden alten, aber letztlich gestellten Farbbildern mehr Glauben schenken, mündlich tradierten Verharmlosungsgeschichten mehr vertrauen als den schriftlichen Originaldokumenten.

    Alois Straffner hat sich einen besonders dekorativen Ausschnitt ausgesucht, vor dieses immer gleiche Mauerstück, von dem der Verputz längst abgebröckelt ist, stellt er die meisten seiner Modelle, eins nach dem anderen. Und tatsächlich, das abendwarme Ziegelrot, die goldgelbe Haut dieser Menschen im Schein der tiefstehenden Sonne, das glänzende dunkle Haar und ihre ungekünstelte Fröhlichkeit, wo zum Teufel sie sie auch hergenommen haben mögen, gibt diesen Photos etwas friedvoll Unwirkliches, Entspanntes, Optimistisches. Irgendwo hat das vielleicht achtzehnjährige Mädchen sogar Stöckelschuhe aufgetrieben, und da posiert es nun, die Hände in die Hüften gestützt, an eine Freundin geschmiegt, stolz, selbstbewußt, bereit für das volle Leben. Überhaupt: Sie alle berühren einander, ist zärtlich das Wort?, haben die Köpfe zusammengesteckt, fassen einander an den Schultern, umarmen einander, halten sich fest, um nicht abhanden zu kommen, könnte man meinen.

... weitere Bilder ...