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Ludwig Laher

Karthago ante portas!

Sollen wir, weil die Beschäftigung mit den Schrecken der NS-Herrschaft sich häufig in routinierten Gedenkakten voll hohl tönendem Pathos ohne Erkenntnisinteresse und Erinnerungskultur erschöpft, lieber gleich den Mantel des Vergessens ausbreiten? Seit Rudolf Burgers polemischem, gefährlichen und doch in Teilen unbestreitbar gut begründeten Plädoyer ist in Österreich eine Debatte über die Verfrachtung des Dritten Reiches in die Abteilung Karthago im Gange, hat Burger doch überspitzt formuliert, für uns seien beide längst gleich weit entfernt.

Natürlich ist das falsch. Statt großer theoretischer Gebäude liefere ich als Begründung Beispiele aus dem Österreich des Jahres 2001, die eindrucksvoll belegen, was letztlich eine Binsenweisheit ist: Nicht daß Auto gefahren wird, ist die Ursache für das Schlachtfeld Straße, sondern wie gewisse Zeitgenossen es angehen. Nicht daß man sich mit der NS-Herrschaft (und den unmittelbar damit zusammenhängenden fatalen Weichenstellungen der frühen Zweiten Republik) beschäftigt, ist das Problem, sondern wie dies passiert.

Können Sie sich vorstellen, daß ein ergrimmter Salzburger Politiker öffentlich feststellt, der ORF habe seine Sorgfaltspflicht in Sachen gewissenhafter Recherche verletzt, weil ein Redakteur in einem Wirtschaftsbericht behauptete, in Anif bei Hallein gäbe es ein Sony-Werk? Daß derselbe Politiker sich erneut zu Wort meldet, nachdem ihm bewiesen wird, daß es in Anif selbstverständlich ein Sony-Werk gibt, und nunmehr verlauten läßt, freilich gäbe es am fraglichen Ort eine Compact Disc-Produktionsstätte, ohne Zweifel ein Tochterunternehmen des Großkonzerns Sony, er habe sich nur dagegen gewandt, den Betrieb als Sony-Werk Anif zu bezeichnen, denn ein Sony-Werk Anif gebe es nicht?

Diese Logik besticht Sie nicht? Nun, diesen Politiker gibt es aber tatsächlich, nur die Firma heißt anders, und daß er sich in der Sache bis zur Selbstentblößung engagiert, ist ein gewichtiges Indiz dafür, daß das mit Karthago nicht stimmen kann. Für Hannibal hätte sich Herr Cirlea garantiert nicht in die Bresche geworfen:

Sommer 2001. Im Bezirksblatt Tennengau, einer Salzburger Regionalzeitung, steht zu lesen: In der ORF-Sendung „Brennpunkt“ wurde kürzlich über die 96-jährige Agnes Primocic berichtet. Nach ihrer Behauptung hätte sie angeblich 17 Häftlingen aus dem KZ Hallein das Leben gerettet. Diese Behauptung muss unwahr sein, da es in Hallein niemals ein Konzentrationslager gegeben hat. Der ORF hat seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem nicht gewissenhaft recherchiert wurde. Es ist sicher wichtig, durch Dokumentationen über die damalige Zeit unsere Jugend aufzuklären. Wichtig ist aber auch, bei der Wahrheit zu bleiben, und nicht KZ’s in Gegenden zu erfinden, wo sie Gott sei Dank niemals waren.

Die Widerstandskämpferin Agnes Primocic ist Ehrenbürgerin der Stadt Hallein, sie wurde vom Bundespräsidenten im Namen der Republik für ihre Verdienste geehrt und hat selbstverständlich u.a. Häftlingen des KZ Hallein das Leben gerettet.

Beim Bezirksblatt Tennengau gab es kein redaktionelles Versehen, es hat auch kein Mitarbeiter die Absicht gehabt, als Wiederbetätiger Karriere zu machen. Der zitierte Text ist nämlich ein Leserbrief, gezeichnet von Gerhard Cirlea, FPÖ-Stadtrat, Hallein.

Dieser Mann unterstellt allen Ernstes einer Ehrenbürgerin jener Stadt, in der er eine politische Spitzenposition bekleidet, zu lügen. Er bezichtigt weiters den ORF, Beihilfe zu leisten, und verkündet, daß es in Hallein niemals ein KZ gab.

Nur kurz soll hier erwähnt werden, daß die Empörung groß war, Herrn Cirlea von anderen Parteien der Rücktritt nahegelegt wurde, der ORF eine ausführliche Stellungnahme abgab und ausführlich berichtete, verschiedene Printmedien das Thema ebenfalls aufgriffen.

Mir geht es nämlich in erster Linie um anderes. Zwischen der Publikation seines Leserbriefes und einer abschließenden, offiziellen Stellungnahme des Herrn Stadtrates liegen ganze zwei Wochen. In meinem neuen Roman „Herzfleischentartung“, in dessen Zentrum zwei NS-Lager stehen, die weniger als fünfzig Kilometer vom KZ Hallein entfernt bestanden und nach dem Krieg so gut wie kein Thema waren, wird im letzten Drittel erzählt, wie die Mörder und die korrupten Mitläufer sich perfekt in die frühe zweite Republik einfügten, meist unwidersprochen ihre Biographien neu erfanden und zum Teil schon bald in verantwortungsvolle Funktionen zurückkehrten.

Hunderte Menschen aus der Umgegend wußten genau, was dieselben Leute drei, vier, fünf Jahre zuvor gesagt, vor allem aber getan hatten. Und doch wurde die Kaltblütigkeit belohnt, es einfach zu probieren, zu lügen, was das Zeug hält, den Lagern verbal ihre Schrecken zu nehmen, die Opfer indirekt zu Tätern zu machen, Spuren zu verwischen, wo es nur ging. Genügen heute ganze zwei Wochen, um mit einem ähnlichen Verfahren erfolgreich zu sein?

Ich überlasse es der Beurteilung der Leser, ob die folgenden, von FPÖ-Stadtrat Cirlea als abschließend dekretierten Ausführungen tatsächlich seinen Leserbrief präzisieren oder ob hier jemand dreist seine eigenen, vierzehn Tage vorher gedruckten Worte grotesk uminterpretiert, ja bestreitet. Hören wir Herrn Cirlea aufmerksam zu:

Personen, die mich nicht verstehen wollen, kann ich auch durch hunderte Erklärungen und Argumente nicht überzeugen. Ich begreife aber die ganze Aufregung um meine Richtigstellung eines ORF Berichtes wirklich nicht. Im Grunde genommen widerspricht mir auch kein einziger Zeitzeuge oder Historiker. Es gab damals einfach unterschiedliche Bezeichnung (sic!) zu diversen Lagern. Die einen waren Konzentrationslager, die anderen waren die Außenlager von KZ’s. Ich habe mit keinem Wort auch nur einen Typus dieser Lager für gut geheißen, doch sollte man trotzdem bei der wahren Bezeichnung bleiben.

Seit meiner Richtigstellung wird immer korrekt vom „Außenlager des KZ Dachau“ berichtet. Das war meine Kritik an der Berichterstattung in der ORF Sendung Brennpunkt und sonst nichts. Ich habe niemals, auch nur mit einem Wort, die sozialen und humanitären Leistungen von Frau Primocic in Frage gestellt, doch berechtigte Kritik darf und muß in einer Demokratie erlaubt sein.

Ich beschränke mich auf sachliche Richtigstellungen. Die Medien haben zwar in ihrer Berichterstattung zum Fall Cirlea erläutert, daß das KZ Hallein Außenlager des KZ Dachau war, es trifft aber nicht zu, daß die korrekte Bezeichnung KZ Hallein seit Cirleas erster Wortmeldung nicht länger gebraucht worden wäre. Im Gegenteil: Selbstverständlich werden die Außenkommandos der großen Konzentrationslager in der Fachliteratur durchgehend als KZ bezeichnet. Auch in der aktuellen Berichterstattung hat sich daran Gott sei Dank nichts geändert.

Im Nachbarbundesland zum Beispiel wurde das Oberösterreichische Landesarchiv mittels Vier(!)parteienlandtagsbeschluß beauftragt, sämtliche NS-Terrorstätten des Landes in ein Buch aufzunehmen, knapp ihre Geschichte zu erzählen, die Anzahl der Opfer zu nennen, eventuelle Gedenkstätten im Bild vorzustellen und zu skizzieren, wie Interessierte am besten anreisen. Man erfährt also in diesem offiziellen Werk u.a. etwas über das KZ Bad Ischl, das KZ St. Wolfgang (wie Hallein Außenkommandos des KZ Dachau), über das KZ Ebensee, die KZ Linz I bis III, das KZ Enns, das KZ Grein , die KZ Gusen I bis III, das KZ Steyr, das KZ Großraming, das KZ Ternberg, das KZ Dippoltsau, das KZ Lenzing, das KZ Vöcklabruck, das KZ Redl-Zipf, das KZ Wels, das KZ Bachmaning und das KZ Gunskirchen (alle Außenlager des KZ Mauthausen).

Die Größe dieser Konzentrationslager war sehr unterschiedlich. Ca. 30000 Opfern des KZ Gusen stehen in manchen anderen Lagern nur wenige Dutzend Häftlinge gegenüber. Alle KZ’s, auch das in Hallein mit seinen etwa hundert Mann Belag, waren der SS unterstellt, ob ein Häftling in Dachau selbst oder in Hallein grausam ermordet wurde, mag allenfalls Statistiker interessieren.

FPÖ-Stadtrat Cirlea, begnadet durch späte Geburt, steht für jene, die sich von Zeit zu Zeit sagen: Man wird es doch noch probieren dürfen. Zeitgeschichte, heißt es in der Stellungnahme des ORF zu seinen Einlassungen, ist nicht das Resultat persönlicher Wunschvorstellungen, worauf der solcherart Kritisierte prompt mit einer neuen Wunschvorstellung reagiert, indem er ausführlich erläutert, was er vor vierzehn Tagen geschrieben zu haben glauben will.

Ein anderes Beispiel:. Mir gegenüber, der ich vor sieben Jahren in die Gegend von St. Pantaleon im Innviertel gezogen bin, haben vor allem ältere Frauen rund um die 80 Andeutungen gemacht, daß hier im Lager St. Pantaleon-Weyer Menschen, zuerst sogenannte Arbeitsscheue und dann Angehörige der autochthonen Sintiminderheit Oberösterreichs, interniert, gequält, als Zwangsarbeiter vermietet, etliche von ihnen ermordet worden sind. Die überlebenden 301 Sinti deportierte man schließlich nach Lodz, aus dem Ghetto kam niemand zurück, die letzten Überlebenden starben im Gas.

Tausende Seiten Dokumente habe ich in verschiedenen Archiven gefunden, darunter den gesamten Aktenbestand der Staatsanwaltschaft Ried, die 1941/42 (!) durch 15 Monate hindurch versuchte, einen Prozeß gegen die Mörder vorzubereiten, und sie in Untersuchungshaft nahm, bis Hitler die Verfahren höchstselbst niederschlug.

Unter den weit über hundert Briefen, Mails, Anrufen, die mich in den letzten Monaten nach Erscheinen von „Herzfleischentartung“ erreichten, waren auch folgende zwei aus verschiedenen Ecken dieses Landes:

In einem erzählt mir der Sohn des damaligen Gemeindearztes aus dem Nachbarort, sein Vater sei 1940 nachts einmal herausgeläutet worden. Die Lageraufseher in Uniform entschuldigten sich und wollten „nur“ Unterschriften auf Totenschaubefunden, der zuständige Lagerarzt sei nämlich momentan nicht erreichbar. Dr. H. weigerte sich und durfte nach Rücksprache mit dem Lagerkommandanten die angeblich an Lungenentzündung Verstorbenen beschauen. Er müsse Fremdverschulden diagnostizieren und Meldung erstatten, meinte der Arzt angesichts der durch schwere Verletzungen entstellten Leichen. Er möge bedenken, seine Frau sei unlängst gestorben, wurde Dr. H. darauf beschieden, er habe vier Kinder, das jüngste knapp ein Jahr. Ob er verantworten könne, daß ihn morgen die Gestapo hole?

Im Morgengrauen, schreibt der Sohn, habe sein Vater unterschrieben. Im Jahr seines Todes 1977 erzählte Dr. H. seinem Sohn in großer emotionaler Erregung diese Geschichte. Der nun schleppte sie mit sich weiter, las fast 25 Jahre später meinen Roman und meint zum Abschluß, dieses Buch würde seiner Familie Befriedung bringen.

Die andere Geschichte: Am Tag nach der Ausstrahlung meines TV-Essays zum Buch im ORF läutet es an der Tür eines Überlebenden des Arbeitserziehungslagers, dessen Vergehen als Achtzehnjähriger darin bestanden hatte, einen Sonntag unentschuldigt bei der HJ zu fehlen. Draußen steht mit einem großen Rosenstrauß die Stieftochter eines der Haupttäter. Wie das Leben so spielt, wohnen beide heute zufällig nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt. Sie habe gestern im Film gesehen, wie er im Folterkeller des ehemaligen Lagers über die Sadismen der Aufseher berichtete. Nur andeutungsweise habe sie gewußt, welche Rolle ihr Stiefvater im Lager gespielt hatte, daß Herr K. eins der Opfer war, sei ihr völlig unbekannt gewesen, und jetzt sei es ihr eben ein spontanes Bedürfnis, ihm diese Blumen zu bringen, einfach so. Ja, kommen Sie doch bitte rein, meint da die Frau des perplexen Hausherrn, zwei Stunden unterhalten sich die Leute, es fließen auf beiden Seiten Tränen. Und gut tut’s.

Wenn die Nazizeit real wie Karthago versunken ist, lieber Rudolf Burger, was schlagen Sie dann für den Fall vor, daß Karthago mit Blumen vor der Tür steht?

Wie lebendig Nazi-Karthago abseits aller Rituale in den Köpfen und Hinterköpfen der noch lebenden Opfer ist, aber auch in vielen Kindern und Kindeskindern nicht nur der Täter und Opfer, sondern vor allem jener Masse unglücklich Verwickelter, für die Dr. H. ein wunderbares Beispiel abgibt, ich allein könnte mit Geschichten dazu viele Seiten füllen.

Sie alle verdienen es, daß man sich abseits gelangweilter Routine noch lange mit der größten Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt. Nie wieder Auschwitz, nie wieder Mauthausen! sind längst mehrheitsfähige, gleichzeitig merkwürdig abgehobene Parolen. Nie wieder Hallein, nie wieder St. Pantaleon! dagegen wird oft als Zumutung empfunden, weil der Gedanke unerträglich ist, daß allein in Oberösterreich 36 Lager bestanden, viele davon offensichtlich für die jeweilige Bevölkerung, die unmenschliche Arbeitsbedingungen, Sadismen, Mord und Totschlag aus nächster Nähe mitanschauen mußte. Weiters im Programm: Denunziationen unter Nachbarn, korrupte Nazi-Funktionäre, die aus dem unermeßlichen Leid der Lagerinsassen privat finanziell ordentlich profitierten, Einweisungen ins KZ und ins Euthanasieheim per Gemeinderatsbeschluß etc.

„Herzfleischentartung“ bietet ein Panorama der oberösterreichischen Provinz von 1940 bis 1955. Die Kontinuität nationalsozialistischer Überzeugungen, Gedächtnisverlust, Lüge und Festhalten an der Rechtmäßigkeit des Unrechts nach 1945 sind zwar bekannt, aber in dieser Genauigkeit und Kompromisslosigkeit selten dokumentiert worden, schreibt Anna Mitgutsch in ihrer einfühlsamen Besprechung meines neuen Romans im STANDARD. Eine weitere nötige Zumutung ist das. Denn das alte Rom, das Karthago beerbte, ist längst untergegangen, die zweite Republik Österreich, die sich mit der jüngsten Vergangenheit schnell arrangierte, leidet darunter noch heute. Und wie.

Wenn’s wehtut, kann man sich natürlich vormachen, man bilde sich den Schmerz nur ein, es gebe keine Ursache. Man kann auch beschließen, ab morgen darf’s nicht mehr wehtun. Besser wär’s allemal, den Krankheitsherd zu diagnostizieren, eine erfolgreiche, möglicherweise langfristige Behandlung hinter sich zu bringen und sich dann, irgendwann einmal, entspannt darüber unterhalten zu können, weil man weiß und Worte dafür hat.